2012/07/22

zehn Jahre deutsch

Vor genau zehn Jahren setzte sich meine Familie ins Flugzeug nach Deutschland.
Ich kann mich nicht wirklich an alles erinnern – meine Güte, ich war noch nicht mal sechs Jahre alt – aber ich glaube, die Angst vorm Fliegen hatte ich nicht (falls ich überhaupt verstanden habe, dass wir fliegen).
Ich erinnere mich aber an drei Lager – einen, mit einer schönen Stadt und einem tollen Spielplatz, einen mit weißem Sand und einen mit Wildschweinen im nahen Wald.
Ich erinnere mich an den ersten Deutschsprechenden, der mich veräppelt hat: „Kostet das was?“ – „Ja.“ – „Och nö, jetzt-“ – „Nein, Scherz, es ist kostenlos!“  
An Kirchenglocken und das Lied Bruder Jakob.
An eine weiße Marmorstatue.
Angst, vor dem Wald.
Flurlicht, das automatisch angeht, wenn man in den Flur geht, den ich auszutricksen versuchte.
All das durch den Schleier eines dummen und naiven Kindes.

Ich erinnere mich an den Kindergarten, wo ich Deutsch erlernte und am Anfang erst durch Handzeichen klar kam. Irgendwann war ich selber Dolmetscher für neue, russischsprechende Kinder.
Ich erinnere mich an Teletubbies, Simsalabim Sabrina, der Bär im blauen Haus und vieles mehr.
Wie Tori von einem deutschen Blödmann mit einem Stein abgeworfen wurde.
Ich erinnere mich an Deutschnachhilfeunterricht, an einen „Deutschclub“ und den wunderbaren Hort.

An unsere Wohnung mit unserem orangen Balkon. Meine Barbievilla von Tori gebaut. Unser blauer Aufblassessel.
Mama, die sich für ihr Deutsch schämt, aber trotzdem weiterspricht.
Tori, die Deutsch-LK genommen hat.
Papa, der sich über mein schlechtes Russisch lustig macht.
Xenia, die mich korrigiert.
Wie ich Zeitungen lese, dabei aber keine dieser hohen Ausdrücke verstehe, trotzdem mitfühlend nicke.
An den Vater eines Freundes, der mich ernsthaft gefragt hat, wo genau ich in Deutschland geboren bin – und überrascht war, als ich ihm sagte, ich sei in Kasachstan geboren, woraufhin er mein gutes Deutsch gelobt hat.
Wie ich im Bett sitze, Bücher lese und dadurch anfing zu schreiben – auf Deutsch.

In diesen zehn Jahren habe ich die Geschichte Deutschlands kennengelernt, Papa zu Wahlen begleitet, Fasching gefeiert, ebenso Halloween. Weihnachten nun wirklich immer am 24. Dezember.

Auch wenn ich wirklich Deutsche bin, sehe ich mich als keine an.
Klar, diese lächerlichen Zahlen können ausschlaggebend sein – aber zehn ist für mich klein.
Selbst wenn ich 50 Jahre hier verbringen würde, ich sehe mich immer noch nicht als Deutsche.
Aber auch nicht als Russin oder Kasachin.
Aber das ist mein Problem. 

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